Der Mehrwert von Legal Tech oder Die Legende von der Künstlichen Intelligenz

Der Mehrwert von Legal Tech oder Die Legende von der Künstlichen Intelligenz

Angebote, die reine Übertragungen aus der analogen Welt in die digitale Welt darstellen, gehören wohl eher nicht zu Legal Tech. Dies ist allerdings nicht wertend gemeint. Einen Wert hat ein Angebot immer dann (und auch nur dann), wenn es dem Anwender nutzt, also einen Mehrwert gegenüber dem bisherigen Angebot darstellt.

Beispiel Anwaltssuche: Die meisten Anwaltssuchseiten sind reine Datenbanken. Sie funktionieren nicht anders als ein Buch, in dem Anwälte aufgelistet sind. Dennoch haben sie für den Nutzer einen Mehrwert, denn sie erleichtern über eine Suchfunktion das Auffinden eines geeigneten Rechtsanwalts. Mit Legal Tech hat das aber nichts zu tun.

Beispiel Vertragsmuster: Vertragsmuster gab es schon vor dem Internet. Werden Sie online gestellt, hat das erst einmal nichts mit Legal Tech zu tun. Erst wenn die Muster interaktiv werden, d.h. wenn ihr Inhalt sich durch Rückkopplung mit dem Nutzer verändert, bieten sie gegenüber ihren analogen Brüdern einen Mehrwert. Dieser Mehrwert kann sogar nur dann entstehen, wenn die Vertragsmuster digitalisiert und aufbereitet werden. Analog wäre der Mehrwert nicht zu erzielen.

Im Kern funktionieren die anwaltliche Rechtsberatung und die richterliche Urteilsfindung schon immer wie ein Computer. Es findet ein Abgleich zwischen einem konkreten Lebenssachverhalt und einem abstrakten Normtatbestand statt, die sog. Subsumtion. Juristen neigen aus gutem Grund sogar dazu, ebenso wie ein Computer, eine Prüfung Schritt für Schritt durchzuführen: Ist Tatbestandsmerkmal 1 erfüllt, wird Tatbestandsmerkmal 2 und anschließend Tatbestandsmerkmal 3 geprüft. Ist eines der Merkmale nicht erfüllt, besteht kein Anspruch.

Problematisch sind dabei allein die Angebote, die behaupten, diese Subsumtion automatisch zu leisten, denn Lebenssachverhalte sind nicht für Computer aufbereitet. Sie haben eine unendliche Varietät. Nur wenn die abzugleichenden Lebenssachverhalte soweit standardisiert sind, dass sie eine endliche Anzahl an Varianten aufweisen, kann eine Rechtsfindung automatisch ablaufen. Beispiel: Die Gestaltungsformen eines Blattes sind unendlich, dennoch wird ein Mensch ein Blatt regelmäßig erkennen, ein Computer eher nicht. Das Schachspiel ist dagegen mit vielen, aber endlich vielen Varianten versehen. Hier kann ein Computer gut eingesetzt werden.

Es gibt hierfür aber Lösungen: Zum einen ist eine teilautomatisierte Lösung denkbar. Der Computer löst die Probleme soweit er kann und wirft nicht zu lösende Fragen zur Beantwortung durch einen Menschen aus. Zweite Lösung: Der Computer bindet einen Nutzer von Anfang an (interaktiv) ein und bietet „nur“ Hilfestellung bei der Entscheidung. Der Nutzer schlüpft dann in die Rolle einen Anwalts bzw. Richters und entscheidet, er subsumiert. Er entscheidet, ob Lebenssachverhalt 1 unter Normsachverhalt 1 fällt oder nicht. Der Computer führt ihn „nur“ zu dieser Entscheidung und hilft ihm mit rechtlichem Hintergrundwissen.

Praktisches Beispiel: Mietminderung. Der Mieter hat im Kern das Recht, weniger Miete zu zahlen, wenn die Wohnung vom Normalzustand negativ abweicht, also einen Mangel hat. Fallfrage ist, wie viel Miete der Mieter einbehalten darf. Problematisch ist hier schon die Erhebung des Sachverhalts. Selbst wenn zwei Mieter in der identischen, schadhaften Wohnung wohnen, werden sie unterschiedliche Auffassungen über den Mangel haben. Der eine beschreibt zum Beispiel die in seinem Badezimmer eintretende Wassermenge mit „es tropft ein wenig“, der andere beschreibt denselben Mangel mit „heftiger Wassereinbruch“.

Der Gesetzestext hilft mit der Formulierung „Mangel, der ihre [gemeint ist die Mietsache, also die Wohnung] Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch aufhebt“ nicht wirklich weiter, so dass üblicherweise auf vorangegangene Urteile von Gerichten zurückgegriffen wird. In diesen haben Richter über konkrete Einzelfälle geurteilt. Das Amtsgericht (AG) Detmold entscheidet dann z.B. 2005, dass ein „starker Wassereinbruch“ in einer Mietwohnung zu einer Mietminderung in Höhe von 10% der Miete berechtigt.

Es ist aber unklar,
• ob das AG Detmold in einem identischen Fall ebenso entscheiden wird,
• ob das Amtsgericht Münster, das vielleicht in dem aktuellen Fall zu entscheiden hat, ebenso wie das AG Detmold entscheiden würde und es ist vor allem unklar,
• ob der „starke Wassereinbruch“ des AG Detmolds dem „heftigen Wassereinbruch“ unseres Beispielfalls entspricht.

Was würde also Legal Tech in diesem Beispiel für einen Mehrwert bringen? Durch eine entsprechende Abfrage der Tatbestandsmerkmale wäre der Nutzer zum einen sicher, dass er keine Tatbestandmerkmale vergisst. Legal Tech böte also eine vollständige Checkliste, die zumindest sicherstellt, dass kein wichtiger Prüfungspunkt bei der Frage, ob ein Minderungsanspruch besteht, vergessen wird. Die Subsumtion, d.h. die Frage ob „heftiger Wassereinbruch“ ein „Mangel“ im Sinne des Gesetzes ist, bliebe dagegen dem Nutzer überlassen. Er müsste entscheiden, ob er ihn unter dieses Tatbestandsmerkmal packt oder nicht. Selbstverständlich würde er bei seiner Entscheidung durch Informationen auf die Rechtslage unterstützt, d.h. ihm würde etwa mitgeteilt, wie das AG Detmold entschieden hat.

Das Risiko einer zu hohen Minderung würde ihn treffen. Dies ist übrigens ja auch für einen Rechtsanwalt nicht anders. Dieser hat kein Geheimwissen, was ihn auf magische Weise dazu befähigt, den genau richtigen Minderungsprozentsatz zu treffen. Der Rechtsanwalt müsste auch bei einer analogen Beratung eines Mandanten darauf hinweisen, dass der von ihm angesetzte Minderungswert auf einer subjektiven Einschätzung beruht.

Fazit: Legal Tech kann dem Nutzer bei rechtlichen Fragestellungen vielfältig helfen, eine künstliche Intelligenz bietet es dagegen nicht.

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